Es ist ein Samstagabend, und Martin Sohn trägt Ringersportschuhe. Er sitzt unweit des Mattenrandes, drei, vier Meter entfernt von einem Kampf Mann gegen Mann. Manchmal, ohne den Blick vom Geschehen zu wenden, greift er nach den Eisbeuteln in der Tasche neben seinem Stuhl und prüft betastend, ob sie noch einsatzfähig und schmerzkühlend wären. Und manchmal eilt er mit dem Mannschaftsarzt Johannes Sauerschell auf die Matte, um Schmerzen zu lindern und eine erste Hilfe zu leisten. Sohn ist Physiotherapeut im Spitzensport und außer in Lichtenfels auch in der 1. Bundesliga daheim. Er hat viel erlebt.
Es ist der 11. Dezember 2021, es ist die Adam-Riese-Halle in Bad Staffelstein und es ist 19 Uhr. In einer halben Stunde steigt hier das fränkische Derby zwischen dem AC Lichtenfels und dem SV Johannis Nürnberg. Corona brachte mit sich, dass diese Halle Alternativkampflatz zur AC-Halle wurde.
Alle Hände voll zu tun: Knetend, massierend, feinfühlend
Wer jetzt Sohn sucht, der findet ihn in einem Raum irgendwo unter der Halle. Eine Liege steht dort. Und sie wird dort auch noch stehen, wenn die Kämpfe vorüber sind. Dann wird es längst nach 22 Uhr sein, Sohn wird alle Hände voll zu tun haben. Knetend, massierend, feinfühlend.
Seit 2002 geraten ihm die Ringer des AC in die Hände, seitdem erlebt er mit ihnen Sport und Sportgeschichte. Doch alles begann eigentlich damit, dass er seinen vierjährigen Sohn Dominik beim Ringen anmeldete. „Das ist 2000 gewesen. Die haben dann spitzbekommen, dass ich Physiotherapeut bin“, so der 54-Jährige rückblickend.
Jetzt, wie er sich so erinnert, ist es noch zwei Tage hin bis zu dem Franken-Derby. Man sitzt in seiner Physiotherapie-Praxis und in einem Raum, der so ziemlich alles zu sein scheint: Kaffeepausenraum, Waschsalon und Bürozweigstelle. Es ist irgendwie gemütlich hier. Und blickt man aus dem Fenster, so sieht man in Richtung Bahnhof.
Da ging ein Traum in Erfüllung
Damals, so fährt Sohn fort, habe es einen Sanitäter gegeben, der sich um die körperlichen Belange der Ringer kümmerte. Bei den Heimkämpfen, aber nicht bei den Auswärtkämpfen. Für diese gab es niemanden beim ACL. Irgendwann wurde er verbindlicher gefragt; dann habe er nicht lange zu überlegen gebraucht. Wenn Sohn so von sich erzählt, bleibt er im Grunde frei von so etwas wie Pathos oder Ausschmückungen. Aber jetzt und in diesem Moment sagt er doch etwas, das in diese Richtung geht: „Es hat sich ein Traum erfüllt.“
Der Mann, der in seinem ersten erlernten Beruf Industriekaufmann war und 1998 sein Staatsexamen zum Physiotherapeuten ablegte, wollte im neuen Beruf „immer was mit Sportlern machen“. Jetzt sogar mit Spitzensportlern.
„Es ist eine der schönsten und anspruchsvollsten Sportarten.“
Sohn scheint ein besonderes Talent zu besitzen, denn wie sollte man es nennen, wenn da jemand auf eine Weise schwärmen kann, die frei von Pathos wirkt. „Es ist eine der schönsten und anspruchsvollsten Sportarten“, befindet er respektvoll über das Ringen und wegen all des Taktierens dort zieht er gar einen Vergleich zum Schach. „Du musst dir Finten überlegen und die Finten vom Gegner erkennen“, legt er dar und fügt noch an, wie anstrengend und kraftraubend dieser Sport ist, denn „ohne den Jubel und die Anfeuerungen der Zuschauer würde man die Athleten schon nach zehn Sekunden schnaufen hören“.
Noch gut kann er sich an den Tag vor bald 19 Jahren erinnern, als er dem Team als Physiotherapeut vorgestellt wurde. Die Mannschaft habe sich in einer Reihe aufgestellt, und der Trainer stellte einander vor. Das war der förmliche Teil jenes Abends im September 2002. Ansonsten sei es „familiär“ zugegangen. Das habe Sohns Entschluss zum Mitwirken „leicht gemacht“. Da macht es auch nichts, dass man damals noch in der Bayernliga rang und die Wege zu Auswärtskämpfen kürzer waren. Heute, in der 1. Bundesliga, geht es bis nach Burghausen. „Das sind immer so zwei, drei Stunden Fahrt und an manchen Wochenenden war man erst früh um 3 Uhr daheim“, sagt Sohn. Er sagt es mit einem Lächeln.
Er weiß viel über Verletzungshistorie, aber auch viel über Privates
Sohn darf Diagnosen stellen. Er darf es aufgrund entsprechender Fortbildungen, insbesondere der zum „Sektoralen Heilpraktiker auf dem Gebiet Physiotherapie“. Er muss auch entscheiden, ob er einen im Kampf verletzten Ringer selbst behandelt oder zum Arzt schickt. So etwas wie ein Dossier zu den körperlichen Gegebenheiten der einzelnen AC-Ringer hat Sohn mit Beginn seiner Tätigkeit nicht angelegt, so etwas „hat man alles im Kopf“. Ihre Verletzungen und Vorbelastungen hat er denn auch im Kopf, ebenso wie allerlei Anekdotisches.
Dadurch, dass er mit den Sportlern berufsbedingt körperlichen Kontakt hat, entsteht eine gewisse Nähe. Aus dieser wiederum eine gewisse Vertrautheit und aus der dann ein Vertrauen. Sogar ein Anvertrauen. „Ich bin das Bindeglied zwischen Mannschaft und Trainer und weiß oft, ob ein Ringer gerade mit der Freundin Ärger oder anderweitige Sorgen hat.“ Doch was unter vier Augen besprochen wird, davon erfahre niemand etwas. Ehrensache.
Wenn Sohn dem Sohn zu Hilfe eilt
Das, was Ringer gesundheitlich am meisten plagt, seien Schulter- und Fußverletzungen, insbesondere Außenbandverletzungen am Sprunggelenk. „Die Matte ist weich, da knickt man schnell um“, führt Sohn aus und erklärt bei dieser Gelegenheit auch, weshalb er selbst bei seinem Zuhilfeeilen auf die Matte jene Schuhe trägt, die ein Umknicken zumindest erschweren. Einmal, da musste er als Vater mit ansehen, wie sich sein Sohn, der auch eine Bundesliga-Ringerlizenz besitzt, den Arm um 90 Grad verdrehte. Wird man da nicht wahnsinnig? „Doch“, versichert Sohn. Er versichert es mit einem Lächeln.
Martin Sohn witzelt gerne. Der Frage, ob Ringer eigentlich wehleidig sind, stellt er entgegen, dass es darauf ankomme, ob sie von ihm oder jemand anderem behandelt werden. Bei ihm seien sie es, ansonsten seien sie es nicht.
Behandlung mithilfe des Google-Dolmetschers
Dann kommt der einstige Industriekaufmann und verheiratete Familienvater auf das Anekdotische zu sprechen. Da wäre beispielsweise die Sache mit dem früheren ukrainische Kaderringer Zhan Belenjuk, früher in Diensten des AC stehend und heute eine prominente Kochshow im ukrainischen Fernsehen betreibend. Oder wie man im Trainingslager auf einer Berghütte die Ringermatte auf der Bergwiese auslegte, um trainieren zu können. Oder wie er einen türkischen AC-Ringer mal mittels Google-Dolmetscher behandelte und Ringer früher in dicker Jacke in der Sauna auf dem Ergometer strampelten, um Gewicht zu verlieren.
Und wie man so in diesem kombinierten Kaffeepausenraum, Waschsalon und Bürozweigstelle sitzt, da fällt dem einstigen Hobby-Fußballer, Kickboxer und Triathleten (Halbdistanz) noch ein, dass sich seine Ringer lieber nach Heim- als nach Auswärtskämpfen auf die Liege und in seine massierenden und dehnenden Hände begeben. „Nach Auswärtskämpfen wollen sie lieber heim.“
Er habe über den Körper zu staunen gelernt, erklärt der Physiotherapeut. Für ihn sei ein Körper ein „Wunderwerk mit Selbstheilungskräften“. Doch manchmal haben auch diese Kräfte ihre Grenzen. Der Fall Martin Kittner zehrt an Sohn.
Ein schwarzer Tag, der schwer zu verarbeiten war
Es ist der 30. September 2006, die AC-Halle ist ausverkauft. Die Rede ist sogar von 750 Menschen, sie drängen sich bis nah an den Mattenrand. Die Luft ist aufgeladen mit Erwartungen und Freude am Geschehen. Dass heute etwas passieren wird, was im schlimmsten Sinne unvergesslich bleibt, darauf deutet nichts hin. Doch der Lichtenfelser Ringer Martin Kittner wird sich in einer Allerweltsaktion verletzen, zwei Halswirbel werden ihm brechen und das erste, was er sagen wird, bekommt auch Sohn zu hören. „Er hat gleich gesagt, er spürt seine Beine nicht – da war klar, da muss das Rückenmark betroffen sein“, erinnert sich Sohn.
Es ist der Tag, an welchem er mit der schlimmsten Verletzung seiner Mannschaftsphysiotherapeuten-Karriere konfrontiert wird. Kittner wird querschnittsgelähmt bleiben, Sohn wird zur Verarbeitung dieser Bilder fast ein Jahr benötigen. „Bei Aktionen, die ähnlich aussehen, kommen die Gefühle dazu noch manchmal hoch“, sagt er auch heute nach 13 Jahren.
Auch er selbst musste sich ob des Erlebten fangen, doch er will dem AC noch lange dienen, wenigstens „die nächsten 20 Jahre“. Dann stellt er seinen Ringern auf der Liege vor allem drei Fragen: Wo hast du Schmerzen? Bei welcher Bewegung? Wie ist es passiert?
Text + Bilder: Markus Häggberg | Quelle: www.obermain.de